A HOUSE TO LIVE
A PLACE TO LEARN

Wir sind in der Stadt Oświęcim, um uns an Auschwitz zu erinnern. Um zu überzeugen, dass wir aus der Vergangenheit lernen müssen. Wir zeigen, dass Oświęcim ein Ort der Begegnung, der Versöhnung und der Verständigung sein kann. Wir sind in der Stadt Oświęcim, damit Auschwitz sich nicht wiederholt.

Biographie, (nationale) Erinnerungsnarrative und historischer Ort

Deutsch-polnisch-tschechisches Seminar für Student*innen - Zusammenfassung

An dem deutsch-polnisch-tschechischen Seminar „Biographie, (nationale) Erinnerungsnarrative und historischer Ort“ nahmen 25 Student*innen aus Liberec, Dresden und Krakau mit den Betreuerinnen Dr. Kinga Gajda, Dr. Kateřina Portmann und Dr. Birgit Sack teil. Die sechstägige gemeinsame Seminararbeit war ein intensiver Prozess des Kennenlernens, des gegenseitigen Vertrauensaufbaus, des Lernens und des Dialogs darüber, was in Auschwitz geschah und welche Rolle die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust in unseren (nationalen) Erinnerungskulturen spielt.

Zu Beginn führten wir die Seminargruppe in die multikulturelle Geschichte der Stadt Oświęcim ein. Die Seminarteilnehmer*innen besuchten die ehemalige Synagoge und das Jüdische Museum und erfuhren über die Rolle der Stadt in den 1940er Jahren, als Auschwitz zu einer Mustersiedlungsstadt für Deutsche im Osten werden sollte. Wir begannen unsere Seminararbeit mit Workshops in kleinen internationalen Gruppen zu den Fragen: Welche Rolle spielt das Thema Auschwitz und der Holocaust im Familiengedächtnis und welchen Platz nimmt es in unseren (nationalen) Erinnerungsnarrativen ein? Aus Sicht der polnischen Studierenden ist das wichtigste historische Ereignis in der polnischen Erinnerungskultur heute der Warschauer Aufstand (1944), der die heroische Haltung der Polen im bewaffneten Kampf gegen die deutschen Besatzer hervorhebt. Auschwitz und der Holocaust sind Ereignisse, die auch heute noch zu Auseinandersetzungen führen, insbesondere im Rahmen der Forschung über die Haltung der Polen während des Holocaust in den besetzten polnischen Gebieten. Es sind Ereignisse, die weiterhin einen Schatten auf die gegenseitigen polnisch-deutsch-israelischen Beziehungen werfen. Vor dem Hintergrund des aktuellen Krieges in der Ukraine bieten sie ein Paradigma für die Bewertung der Haltung der europäischen Nationen, insbesondere der Deutschen, gegenüber den von Russland begangenen Verbrechen. Die Seminarteilnehmer*innen aus Deutschland betonten das jahrelange Schweigen über Auschwitz und den Holocaust in ihren Familien und die Unterschiede in der Erinnerung an diese Ereignisse in Ost- und Westdeutschland. Heute wird die Erinnerung an die „vergessenen Opfer“ wiederhergestellt - am 27.01.2023, dem Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, gedachte der Deutsche Bundestag der Opfer der NS-Herrschaft, der verfolgten Gruppen sexueller Minderheiten - 90 Jahre nach Beginn ihrer beispiellosen Diskriminierung, Unterdrückung, Verfolgung und Ermordung. Für die tschechischen Teilnehmer*innen sind die Münchner Konferenz (1938), die Eingliederung des Sudetenlandes in das Dritte Reich mit Liberec als Hauptstadt, die Abspaltung des Protektorats Böhmen und Mähren von der übrigen Tschechoslowakei Mitte März 1939 und die Ermordung Reinhard Heydrichs (1942) zentrale Punkte in der (nationalen) Erinnerungserzählung des Zweiten Weltkriegs. Theresienstadt, ein 1941 eingerichtetes Ghetto und Konzentrationslager für Juden, von dem aus Transporte zur Vernichtung nach Auschwitz geschickt wurden, wurde zu einem Symbol des Holocausts. Die gemeinsamen Diskussionen und Überlegungen zeigten, wie stark sich unsere (nationalen) Erinnerungsnarrative unterscheiden, wie unterschiedliche Symbole sie konstruieren und dass wir nur in einem grenzüberschreitenden Dialog, der auf Vertrauen und Respekt basiert, in der Lage sind, sie ans Licht zu bringen und zu verstehen.

Ein Rundgang durch die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau unter Anleitung von Guides und Workshops in der tschechischen und österreichischen Landesausstellung im Museum zeigten, wie die heutige Generation die Gedenkstätte wahrnimmt. Es scheint, dass für junge Menschen das Narrativ im Museum wichtiger ist als der Ort. In den Gesprächen gaben die Student*innen zu, dass die Tatsache, dass sie sich am authentischen Ort eines deutschen NS-Konzentrations- und Vernichtungslagers befanden, nicht so wichtig war wie die Art und Weise, wie die Vergangenheit erzählt wird. Ihr Hauptaugenmerk lag auf der Art und Weise, wie der Guide die Vergangenheit darstellte, welche Formulierungen er verwendete und auf welche Fakten er sich berief. Sie erklärten, dass sie nicht nur die Fakten, sondern auch die Ursachen erfahren wollten: „Wir wissen, was passiert ist, aber nicht, warum.“ Sie wiesen auch darauf hin, dass eine Interaktion und ein Gespräch mit der Person, die durch die Ausstellung führt, notwendig ist. Junge Menschen wollen Fragen stellen, und sie wollen, dass auch ihnen Fragen gestellt werden. Sie verlangen, dass vergangene Ereignisse aus heutiger Sicht interpretiert und mit der Gegenwart in Verbindung gebracht werden, damit sie darüber nachdenken können, was die Vergangenheit mit der Gegenwart zu tun hat. Die Student*innen gaben an, dass sie sich an der Analyse der Vergangenheit beteiligen wollen, da sie motiviert sind, Schlussfolgerungen zu ziehen. Sie haben auch das Bedürfnis, Geschichten in einem Raum zu hören, in dem sie sich konzentrieren können und in dem nicht zu viele Menschen gleichzeitig anwesend sind. Wie sich herausstellte, ist die junge Generation an ein narratives Museum und damit an das Erzählen ausgewählter Aspekte der Geschichte gewöhnt. Daher erinnerten sich die befragten Student*innen besonders an die neuen Länderpavillons, in denen das Gruppenerlebnis durch das Prisma des Einzelnen und der Artefakte, die zu den Zeugen der Geschichte gehören, dargestellt wird. Ohne auf das Thema des Verschwindens der Wahrnehmung des Ortes als Zeuge der Geschichte einzugehen, ist es sicherlich erwähnenswert, dass junge Menschen ein Gefühl des emotionalen, analytischen und kognitiven Engagements brauchen. Ihr Hauptaugenmerk liegt auf der Art und Weise, wie die Geschichte erzählt wird, und inwieweit die Geschichte analytische und interpretative Anstrengungen erfordert und sie fesselt.

Führungen an den historischen Orten und Workshops wurden durch thematische Präsentationen ergänzt. Die Studierenden aus Krakau beschäftigten sich mit dem Thema der Entstehung der Erinnerung an Auschwitz und den Holocaust kurz nach der Befreiung:

In unserer Präsentation stellten wir verschiedene Perspektiven und Narrative über die Befreiung von Auschwitz durch die Sowjetarmee vor. Wir konzentrierten uns auf die von polnischen und ausländischen Medien in den 1940er und 1950er Jahren und heute konstruierten Narrative. (...) Unser Ziel war es, zu zeigen, dass keine Geschichte ausschließlich schwarz oder weiß ist. Bei unseren Recherchen wurde uns bewusst, wie leicht Geschichte und öffentliche Meinung manipuliert werden können, insbesondere in Bezug auf die zeitgenössischen Medien.

In ihrer Präsentation erzählten die Student*innen aus Liberec über das Schicksals der jüdischen Bürger*innen der Stadt, aus der sie stammen:

(...) In der Präsentation „Liberecer Bürger*innen und der Holocaust“ haben wir die Ergebnisse der langjährigen Arbeit unserer älteren Kolleg*innen, die unter der Leitung von Dr. Portmann an diesem Thema arbeiten, verwendet, wofür wir ihnen danken möchten. Wir haben auch neue oder beginnende Forschungen vorgestellt - Namen und Geburtsdaten von Menschen, die aus Liberec deportiert wurden, Dokumente, die wir über Transporte und das Schicksal der Opfer gefunden haben. Wir wollten betonen, dass es damals keine Rolle spielte, wie sich diese Menschen identifizierten - nicht alle Deportierten gaben sich als Juden zu erkennen, zumeist waren sie nur im Sinne der rassistischen Nürnberger Gesetze Juden. Wir werden unsere Forschungen fortsetzen und auf diese Weise die Erinnerung an diese Menschen in der Stadt Liberec wiederherstellen - zum Beispiel in Form von „Stolpersteinen“, wie es der Fachbereich Geschichte unserer Universität tut.

Mit ihrer Präsentation wollten die Dresdner Student*innen ihren polnischen und tschechischen Kollegen zeigen, wie die Deutschen mit ihrer eigenen Geschichte umgehen.

Besonders wichtig war uns dabei, auf die Unterschiede in den beiden deutschen Staaten mit deren unterschiedlichen Staatsformen einzugehen und einen Überblick zu geben. Dabei haben wir uns nicht nur mit der Vergangenheitsbewältigung von Auschwitz befasst, sondern mit den Verbrechen der Nazis, da wir unseren heutigen Standpunkt und den Wandel dahin zeigen wollten. In beiden deutschen Staaten verlief das Erinnerungsnarrativ auf unterschiedlichen Wegen, jedoch führte es letztendlich zu dem Diskurs, den wir heutzutage führen. Daneben wollten wir verdeutlichen, dass Deutschland und insbesondere die 1990er Jahre ein extrem spannendes Feld für unsere Themen Gedenken und Erinnerung sind. Die Artikel im Referat haben gezeigt, dass Erinnerungen in Nationalstaaten bestimmte Funktionen erfüllen, sodass dies kritisch zu hinterfragen bzw. zu reflektieren ist. Wir als Historiker/Innen verpflichten uns oft den Opfern oder Marginalisierten in der Geschichte, um Ihnen eine Stimme zu geben, gleichzeitig füttern wir dabei fleißig nationale Narrative und schaffen es nicht, über diese hinaus zu blicken. Dies kann nur im internationalen Austausch, sowie in Interdisziplinarität (hier Politikwissenschaft, Geschichte und jüdische Studien) sowie der Verbindung von Theorie und Praxis gelingen. Erkenntnisse aus der Geschichtswissenschaft müssen vermittelt, diskutiert und in Frage gestellt werden- immer wieder aufs Neue.

In der abschließenden Diskussion des Seminars wurde deutlich, dass wir, obwohl Auschwitz das „gemeinsame Gewissen Europas“ ist, immer noch nicht in der Lage sind, nationale Spaltungen zu überwinden, um eine universelle, europäische Erinnerungskultur aufzubauen, die uns und künftigen Generationen helfen würde, ähnliche Verbrechen in Zukunft zu verhindern. Wir beendeten unsere gemeinsame Seminararbeit mit einer Gedenkzeremonie für die nach Auschwitz deportierten jüdischen Bürger*innen von Liberec, bei der die Namen von 265 Personen, von denen nur 12 Auschwitz überlebten, auf dem Gelände des ehemaligen Familienlagers für die Juden von Theresienstadt in Birkenau (BIIb) verlesen wurden.

Den letzten Tag des Programms verbrachten die Seminarteilnehmer*innen in Krakau. Sie nahmen an einer kuratorischen Führung durch die Ausstellung „Spuren der Erinnerung” im Galicja-Museum teil. Die Ausstellung zeigt den Reichtum und die Vielfalt des jüdischen Lebens in Südpolen vor dem Holocaust und verdeutlicht die Leere - die Abwesenheit der Juden, deren Stimmen diesen Raum vor dem Holocaust erfüllten. Anhand der Ausstellung konnten die Teilnehmer*innen über die Art und Weise des Gedenkens an die Vergangenheit und die Sprache nachdenken, die verwendet wird, um die Vergangenheit auszudrücken und die Vergangenheit mit der Gegenwart zu verbinden.

In den Jahren 2023 und 2024 werden zwei weitere Seminare in Liberec und Dresden stattfinden.

Koordination und Seminarleitung: Elżbieta Pasternak (IJBS Oświęcim/Auschwitz), dr hab. Kinga Anna Gajda (Instytut Studiów Europejskich UJ/Polska), Dr. Kateřina Portmann (Technická univerzita v Liberci, Katedra historie/Republika Czeska) Dr. Birgit Sack (Gedenkstätte Münchner Platz Dresden/Niemcy, Technische Universität Dresden/Niemcy).

Das Projekt wird aus den Mitteln des Deutsch-Polnischen Jugendwerks (DPJW) im Rahmen des Förderprogramms „Wege zur Erinnerung” und des Fördervereins für die IJBS Oświęcim/Auschwitz finanziert.

Scrolle nach oben